Seit mehr als einem halben Jahr bin ich nun in Auroville und nein, es hat mich nicht verschluckt. Obwohl es sich manchmal so anfühlt. Auroville übt auf mich eine merkwürdige Anziehungskraft aus. Sie bewirkt, dass sich Unsicherheit einstellt, ja, fast Angst, wenn ich mit dem Gedanken spiele, die Stadt der Morgenröte zu verlassen.
Nach dem Monsun im November/Dezember und der darauffolgenden klimatisch angenehmsten Zeit bis Ende März bin ich auch in den heißesten Monaten des Jahres April und Mai hier geblieben. Die schon gebuchte Ayurveda Kur in Kerala, um meine von der Arbeit müden Knochen zu pflegen, habe ich storniert, weil es mir von einer Sekunde zur nächsten unmöglich schien, Auroville zu verlassen. Hat es den Norden des Landes dank Klimawandel mit extremer Hitze erwischt, fiel bei uns im Süden der Wechsel zum ablandigen Feuerwind Ende Mai aus und unsere Nachmittage in Auroville werden nach wie vor von einer kühlen Meeresbrise erfrischt. Bei derzeitigen Tageshöchsttemperaturen von 37° ist das auch gut so. Auch hilfreich gegen die Hitze ist der arabisch anmutende Gesichtsschutz, der das Fahrradfahren in der Mittagszeit erträglich macht.
Täglich arbeite ich in den Gärten des Matrimandirs, wo mein Team unablässlich schrumpft, wächst und sich rund um einen harten Kern an Kollegen/innen verändert.
Wir fegen, harken, pflanzen, mulchen, jäten, gießen und ernten sieben Tage die Woche. Jede dieser Tätigkeit gilt in Indien als niedere Arbeit, die von einer niederen Kaste ausgeführt wird. Für uns ist es Karma Yoga, der Yoga der Arbeit. Achtsam ausgeführt und mit einem Enthusiasmus "als würde das Gleichgewicht der Welt davon abhängen" (Dalai Lama). Und weil das so ist, verbringen wir auch neben der Arbeit Zeit miteinander.
Wir unternehmen gemeinsame Ausflüge und neuerdings gehen wir auch gemeinsam an den Strand. Im Moment habe ich einen französischen Gartenkollegen. In einem anderen Leben ist er Lifeguard, und da 90% meiner Kollegen/innen Nichtschwimmer sind, zeigt er ihnen, wie man sich im wilden Indischen Ozean verhält, ohne unterzugehen. Sharing ist eben Caring.
Ich helfe neben meinem Job als Gärtnerin seit einigen Wochen in der Deepam Schule für Kinder und Jugendliche mit "Speziellen Bedürfnissen". Die Deepam Schule betreut junge Menschen mit Behinderungen, körperlichen und geistigen. Ich unterstütze ein paar Kinder jeden Dienstag beim Therapeutischen Reiten und gebe donnerstags ein entspannendes Klangbad für eine größere Gruppe. Die Schule macht eine ganz hervorragende Arbeit, lebt von Spendengeldern und ich bin super glücklich, dass ich ein, wenn auch nur kleiner Teil, davon sein darf.
Rund 60 Telefonnummern habe ich in den letzten sechs Monaten in meinem iPhone gespeichert. Am Kommen und Gehen der Menschen macht die Zeit mir deutlich, wie sie voranschreitet. Alles ist ständiger Veränderung unterworfen. Das Wetter, meine Unterkunft, meine Laune, mein Denken, ich und Auroville. Die Stadt der Zukunft, das menschliche Laboratorium erlebt gerade eine der schwierigsten Zeiten seit seiner Gründung vor 53 Jahren. Obwohl es in Auroville keine Politik geben soll, ist gerade sie es, die ihre langen Finger nach Auroville ausstreckt und zur Erreichung ihrer Ziele für Indien nicht untypische Maßnahmen einsetzt. Seit Dezember werden Gebäude bei Nacht und Nebel eingerissen, um endlich alte Pläne in die Tat umzusetzen und eine Stadt für 50.0000 Menschen zu bauen. Bewohner, die dagegen aufbegehren, wird kein neues oder nur ein stark limitiertes Visum bewilligt, denn Strafe muß sein. Entscheidende Positionen in der Stadtverwaltung werden ohne Einhaltung von Kündigungsfristen neu und linientreu besetzt. Wer den Mund aufmacht, wird des Landes verwiesen. Rassenhass wird geschürt, Gräben vertieft. Die Gerüchteküche brodelt, aber niemand weiß wirklich, was hinter all dem steckt. Dieser Zustand ist mit ein Grund, warum ich lange nichts geschrieben habe. Die Erlebnisse sind einfach zu einschneidend, um nicht darüber zu schreiben und doch weiß ich zu wenig, um es zu tun. Spekulationen sind wenig hilfreich und noch dazu gefährlich, denn im Zweifel bin ich die nächste, die ein Visum braucht. Auroville ist, wie Mirra Al Fassa es prophezeit hat, ein Spiegel der Menschheit. Alles, was es draußen gibt, findet sich auch in Auroville. Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine ist das erschreckend wahr.
Ich tue trotzdem, was ich tun kann, um meine Zeit hier zu geniessen und probiere aus, was neu für mich ist: ein Mahendi, diese wunderschöne Henna Tätowierung auf Händen und Füßen, einen Saree tragen sowie Nasenring und Fußkettchen. Schwarze Riesenskorpione fotografieren, stinkige Essig Skorpione und Riesenkakerlaken fangen. Blumenmandalas gestalten. Contact improvement Dance lernen und endlich Kraulen. Blüten essen. Vermüllte Strandabschnitte tolerieren, ohne zum wiederholten Male darüber in Entsetzen auszubrechen. Mit meinem Fahrrad über die Autobahn fahren, was dank nicht vorhandener Verkehrsregeln sicherer zu sein scheint als mit. Um neun Uhr abends ins Bett gehen und um vier Uhr morgens wieder aufstehen. Meine indischen Freunde lieben und mich mit ihnen in unserer Unterschiedlichkeit vereint fühlen. Meditieren in den farbigen Pedals des Madtrimandirs und Staunen, über alles und jeden.
Ich lerne täglich dazu und liebe, was ich tue. Doch mittlerweile vermisse ich meine Kinder und meine Freunde in Hamburg schmerzlich. Ende April 2023 will ich zurückkommen, wenigstens für einige Monate. Und im November 2022 plane ich, Indien in Richtung Thailand zu verlassen und Freunden auf dem Land bei der Wiedereröffnung nach Covid in ihrem Project zu helfen. Mal schauen, ob es so kommt oder anders.
Love and Devotion, wie man in Auroville so schön sagt!
Herzlichst, Eure Claudia
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